Freundschaft & Pflicht
Drittplatzierter des Schreibwettbewerbs von GoroMai 2024"Könntest Du in den kommenden Tagen einige Stunden finden? Ich hege schon viele Jahre ein Anliegen, das ich in Ruhe mit Dir besprechen muss."
Die Worte, die JinJin ihm gegenüber zur Begrüßung auf dem Anwesen ausgesprochen hatte, beschäftigten Goro, seit sich ihre Wege auf dem Anwesen gekreuzt hatten. Vor zwei Tagen hatte man das Ziel der Reise erreicht, einen Randbezirk Paikangs. Dort hatte sich Pinto mit Vertretern des khitanischen Adelsgeschlechtes aus der Region treffen wollen. Verhandlungen über Handelsbedingungen, Abbau des Militärs in der eigenen Provinz, die hunderte Seemeilen von der Hauptstadt trennten. Eingeständnisse einfordern und gleichzeitig viele Male mit der Stirn auf dem Boden tief verbeugend den Bückling spielen. Es waren in der Regel ruhige Tage. Die Gespräche fanden auf großen Anwesen statt, geschützt von vielen Wachen und in der Regel hohen Mauern. Eine gewisse in der Luft liegende Anspannung lag immer in der Luft. Dass ein verzweifelter Bauer auf offener Straße ein Messer hervorholte, Banditen einem reisenden Tross eine Falle zu stellen versuchten oder Raubtiere den Weg abschnitten, war schon vorgekommen. Von den Sorgen, die bei solchen Empfängen aufwarten mochten, hatte man gehört. Von einer tatsächlich erlebten Erfahrung, musste er jedoch bisher nicht darüber berichten.
Die Frage, was dieses Anliegen sein mochte, das die Frau vom khitanischen Festland mit ihm besprechen wollte, vermochte keine weitere Runde in seinen wild umher springenden Gedankengängen zu drehen. Der harte Schlag eines Holzstocks auf den blanken Nacken riss den alten Mann wieder ins Bewusstsein zurück. Seine Augen öffnend starrte er in Pintos von Wut und Ratlosigkeit zerfressene Gesichtszüge. Pinto mochte fast fünfzehn Jahre jünger sein, doch die vergangenen Tage hatten ihre Spuren hinterlassen.
"Willst Du mich weiterhin anschweigen, Takemura?!?" Wie fremd und wenig vertraut konnte der eigene Name eigentlich klingen? Takemura. Pinto sprach ihn so gegenüber Dritten an. Wer ihn schon besser kannte, wusste, dass der Adelsmann es vorzog, ihn Goro zu rufen. Goro war nicht nur der Dienstälteste in den Reihen seiner Wachen, sondern auch ein ebenso langer enger Vertrauter der Familie. Es war beinahe dreißig Sommer her, dass man sich in einem Gasthaus rege über Politik und unnötige Kriegsleiden ausgetauscht hatte. Pinto war nicht der typische Adelsspross, der sich nur darum scherte, ob die Bauern die Nahrungsspeicher regelmäßig befüllten und der Handel die Schatzkammer füllte. Er sah die Sorgen, von denen nicht nur die Provinz seines Vaters, sondern ihre gemeinsame Heimat geplagt waren. Früh hatte er den Entschluss gefasst, seinen Stand nach besten Möglichkeiten zu nutzen, Missstände beizulegen und ein besseres Leben für alle zu erarbeiten.
Regelmäßige Reisen auf dem Seeweg nach Khitai und Empfänge khitanischer Diplomaten und Würdenträger auf dem eigenen Anwesen gehörten zu seinen regelmäßigen Aufgaben. Pinto wollte die sehr wankemütigen Bande festigen. Anhaltenden Frieden und wenn es dafür nicht reichte, zumindest beiderseits gefälligen Austausch und Handelsbeziehungen ermöglichen. Dieses Ziel war alleine nicht zu bewältigen. Und die Bemühungen alleine sorgten selbst in der eigenen Bevölkerung für gelegentlichen Unmut. Ein Verräter, der die Freiheit aufs Spiel setzen wolle, der mit Füßen trat, wofür Generationen vor ihm Blut gelassen hätten. Doch Goro hatte die Schlachten selbst erlebt. War durch brennende Dörfer marschiert und hatte aus erster Hand erfahren, welches Leid dieser scheinbar nicht enden wollende Disput zwischen dem Kaiserreich und der Inselgruppe, die sie Heimat nannten, mit sich brachte. Es brauchte nicht viele Gespräche, um den Soldaten Yamatais – seinerzeit seit einigen Jahren aus dem aktiven Militärdienst zurückgetreten und als Lagerarbeiter in einem Dock am Hafen aushelfend – davon zu überzeugen, Pintos Beispiel zu folgen.
Die vor Müdigkeit und Anstrengung zitternden Hände kamen nicht dazu, nach der schmerzenden Stelle im Nacken zu tasten. Sie waren mit grobem Strick auf den Rücken gefesselt. Die Knie schmerzten inzwischen schon gar nicht mehr. Goro hatte irgendwann in der Nacht das Gefühl in den Beinen verloren, ahnte lediglich noch das Holzscheit, das man ihm in die Kniekehlen geschoben hatte, um die kniende Haltung schmerzhafter zu gestalten. Jetzt war da nur noch ein unerträgliches Kribbeln, das seinen Kopf noch mehr mit Schmerzimpulsen schikanierte, als es die kreisenden Gedanken taten.
Pinto starrte mit einer Mischung aus Enttäuschung und Zorn auf Goro herab. Zu behaupten, es wäre Abscheu, die da im Blick lag, wäre gelogen. Der alte Soldat hatte Pinto bis zu diesem Abend beinahe vier Jahrzehnte lang gedient. Einen Großteil dieser Zeit verband sie gar mehr als ein einfaches Arbeitsverhältnis von Soldgeber und Empfänger. Unzählige Gespräche und Reisen verbanden die beiden Männer, die sich schon lange Freunde nannten, gar von Familie sprachen. Als Wächter in die Pflicht genommen, hatte Goro die meiste Zeit seines Lebens an Pintos Seite, verbracht. Gleich ob es auf seinem Grund oder als Begleiter auf Reisen war. Es folgte die Ausbildung und Koordination späterer Wachen. Und selbst als Pinto entschied, neun Jahre Dienst als Leibwächter an seiner Seite zu beenden, geschah dies in wohlwollender Absicht.
Pinto hatte endlich einen Sohn! Nach zwei Töchtern hatte ihm das Schicksal endlich einen Nachfolger geschenkt. Doch die diplomatischen Bemühungen nahmen nicht ab.
"Hast Du mir nichts zu sagen?" Die erboste Stimme konnte ihren Groll nicht gänzlich aufrecht halten. Erneut brach sie. Und während weitere Stockhiebe auf den entblößten und von vielen Striemen und einigen Platzwunden gesäumten Oberkörper seines Wächters niedergingen, rollten abermals Tränen über das von Schlafmangel und Verausgabung gezeichneten Gesichts von Pinto. Goros Tränen hingegen zeugten gerade vorrangig von dem intensiven Schmerz, den die Folter an ihm hervorrief. Der Boden unter ihm wies erste Schrammen im glatt polierten Holzparkett auf. Die Pfütze, in der Goro kniete, war übelriechend. Eine Mischung seines Schweißes und Blut, vor allem aber Urin. Seit er Nachts auf dem Weg vor dem Anwesen aufgegriffen und abgeführt wurde, hatte er den Raum nicht mehr verlassen. Die Wachen mochten sich in ihrem Wachdienst abgewechselt haben. Doch sie alle hatten die Anweisung gemein, den alten Wächter durch Peinigung am Einschlafen zu hindern. Ein Vorhaben, das inzwischen im Abstand weniger Minuten wiederholt werden musste.
"Wo warst Du? Du kanntest Deinen Platz!" Die Stimme Pintos brach währenddessen Schelte. Mit von stillem Schmerz gezeichneter Miene wandte sich der Adelige ab, fuhr sich fahrig mit den Ärmeln über das Gesicht, während der Wächter an Goros Seite den Strick fester zog. Die auf dem Rücken überkreuzt verbundenen Hände wurden höher zwischen die Schulterblätter gezogen, während der um den Hals gelegte Strick wieder rau und borstig am Hals rieb und dem Gefangenen die Luft abschnürte, bis Pinto ein stilles Handzeichen gab, dass er das ersterbende Röcheln Goros wieder lange genug vernommen hatte.
"JinJin mein Herr." schwer schnaufend nach Atem ringend mühte er sich, Pinto eine Antwort zu geben, sei es nur um einer erneuten Strangulation zu entgehen. "...sie bat um ein Gespräch. Wegen einer vergangene Reise. Sie... wollte sich erst unter vier Augen erklären..."
"Und kaum dass ein Weib Dir Worte zuraunt, springst Du auf und läufst von Dannen?!?" Pinto schien den Worten keinen Glauben zu schenken. Die Wange platzte auf, als die Rückhand mit Schwung ausgeholt auf die faltig werdende Haut traf und der Siegelring am Finger eine blutige Scharte riss.
"Du hast Dich davon geschlichen, um einem Attentäter den Weg zu ebnen!" Die vor Wut grollende Stimme Pintos überschlug sich beinahe. Der nächste Vorwurf erstarb in der heiser geschrienen Kehle. Stunden der Tränen und fassungslosen Verzweiflung brachten selbst einem Mann vieler wohlüberlegter Worte an ihre Grenzen.
Die Arbeit hatte Pinto nicht viel Zeit gelassen, selbst nach seinem Sohn zu sehen und diesen zu formen. Der junge Yamatai hatte gerade erst gelernt, aufrecht zu gehen und einfache Sätze zu sprechen, als man Goro damit vertraut hatte, sich dem jüngsten Nachwuchs im Adel anzunehmen. Eine Aufgabe, die dem Soldaten viel abverlangte und ihn die meiste Zeit an die Seite von Pintos Sohn stellte. Shingen wurde der junge Zögling genannt. Und wenn Goro nicht still im Hintergrund verblieb, ein wachsames Auge auf den Schützling und das Umfeld hatte, in dem sie sich bewegten, dann konnte man sie oft dabei beobachten, wie der Junge seiner Neugierde entsprechend Fragen stellte und der inzwischen alt gewordene Soldat bemüht war, jede noch so sonderbare Frage zu beantworten. Was die Lehrmeister Shingen nicht beibrachten, das erklärte der Leibwächter lange und ausführlich, womöglich froh darüber, wenn der Wachdienst nicht nur stillschweigend vollzogen wurde. Zwischen den Beiden wuchs eine Freundschaft heran, ähnlich herzlich wie sie einst zwischen Goro und Pinto Blüte getragen hatte. Man hinterfragte nicht, dass der Junge sich dem Wächter so sehr anvertraute. Vielmehr schätzten alle Seiten die Herzlichkeit, sprachen in den Jahren über Goro wie über einen nahen Verwandten der Familie. Und Goro selbst, dessen Pflichten so kaum noch Zeit für ein eigenes Privatleben erlaubten, sprach im Vertrauten selbst davon, das Haus seines Herrn Pinto wie eine eigene Familie zu schätzen und Shingen wie einen Sohn zu lieben.
Als junger Erwachsener wuchsen die Herausforderungen. Shinto war rebellischer geworden, hinterfragte die Ambitionen seines Vaters und dessen Gäste häufig und verbrachte viele Abende bei Sake und jungen Frauen, in denen er sich von Goro in langen Gesprächen eine andere Sicht der Dinge einholte, immer öfter darum bemüht, den alten Mann den er neckisch Großvater rief, aufs Glatteis zu führen. Das ungleiche Duo hatte man häufiger in den Amüsierhäusern der Ortschaften angetroffen. Wie Goro oft beteuerte, rein beruflicher Verpflichtung, nicht von Shingens Seite zu weichen.
Und doch hatte er sich in dieser Nacht vor zwei Tagen entfernt. Die Kammer neben dem Schlafgemach war leer geblieben, eine Türe des Grundstücks war nur angelehnt geblieben, als Goro sich in Richtung des Treffens mit einer Khitanerin – nur wenig jünger als er – aufgemacht hatte. Er war noch alleine auf dem Weg marschierend aufgegriffen worden, als entsandte Späher zu Pferde ihn fanden und ohne lange zu reden, gewaltsam zurück zum Anwesen schliffen. Man hatte Shingen nach einer vernommenen Unruhe leblos im Bett liegend vorgefunden. Es musste ein kurzer Kampf gewesen sein. Die Kehle aufgeschnitten und mehrere Stiche in den Torso hatten dem Adelssohn ein schnelles Ende gesetzt. Der oder die Attentäter entkamen. Ergriffen hatte man jedoch den Mann, der seit knapp zwanzig Jahren keinen Tag von Shingens Seite gewichen war.
"Shingen war für mich wie ein Sohn, Herr!" "Und dennoch ist er tot! Mein Sohn ist tot, Takemura! Mein Sohn! Nicht Deiner! Du warst für ihn verantwortlich! Du hast meinen Sohn auf… dem Gewissen!"
Die Anschuldigungen klangen zu dieser Stunde nur noch müde. Pinto hatte die vergangenen Tage so viele Fragen und Anschuldigungen gebrüllt, nach Antworten gesucht und die richtigen Fragen zu finden versucht. Er war müde und der alte Freund, der gekrümmt vor ihm kniend, kaum noch imstande war, Blickkontakt zu halten? Er war seiner überdrüssig.
"Ich wünschte, ich könnte meine Finger um Deinen Hals legen und Dir das Leben aus Deiner verdammten Kehle quetschen! Aber..." Pinto schnaufte tief durch, hob den von Zweifeln durchsetzten Blick zu den Wachen und seinem im Türrahmen stehenden Gastgeber. "Ich erlaube Dir keinen schnellen Tod! Diese Gnade verdienst Du nicht, Du wertloser Wurm!"
Mit Abscheu spuckte Pinto vor Goros Füße. Haltung suchend und um Kontrolle ringend, schluckte der Adelige Yamatai und griff dem älteren Landesmann in den Haarschopf, um seinen Blick in den seinen zu zwingen. "Aber Du wirst unsere Heimat nie wieder sehen. Dafür sorge ich! Wenn Du Dein erbärmliches Leben aushauchst, dann wirst Du das mit dem Wissen tun, alles verloren zu haben! Dann kannst Du vielleicht ahnen, was Du mir angetan hast!" Ein entschlossenes Nicken ihrem Gastgeber widmend, schnaufte Pinto ausgelaugt und kalt. "Legt ihm eure Armbänder an und setzt ihn ans nächste Ruder auf euren Schiffen. Ich habe keine Verwendung mehr für ihn..."